Die 32 Klaviersonaten Ludwig van Beethovens gelten bis heute als elementarer Bestandteil des musikalischen Kanons und genießen einen außergewöhnlichen Rang im Klavierrepertoire. Dabei fällt nicht nur die kompositorische Finesse in jedem Einzelnen der Werke auf, auch ihre Vielseitigkeit ist beeindruckend, wenn man die Sonaten in ihrer Gesamtheit erlebt. Im Überblick wird deutlich, dass die Entwicklung von den frühen bis zu den späten Sonaten hin keineswegs gradlinig verläuft: immer wieder schlägt der Komponist eine neue Richtung ein und geht anders mit den Gattungsspezifika um, starke Einschnitte sind beispielsweise ab Opus 31 und 78 spürbar. Die Sonaten beleuchten außerdem die verschiedenen Schaffensphasen, in welche das Oevre des Komponisten eingeteilt werden kann.
Die erste Periode beginnt mit Beethovens Aufenthalt in Wien. Er etablierte sich als Pianist und Komponist, und schnell fand er die Unterstützung adliger Musikliebhaber, besonders durch den Fürsten Karl Lichnowsky. Aus Skizzen früherer Werke lässt sich schließen, dass Beethoven schon vor Opus 1 intensiv am Sonatenstil arbeitete, wobei der Austausch in Wien, u.a. mit Joseph Haydn, eine besondere Auswirkung auf die Formung seines eigenen Stils haben würde. Bereits in der ersten Klaviersonate (Op. 2, 1795) mit einem unvermittelten Einstieg des berühmten Hauptthemas wird deutlich, wie dicht Beethoven komponiert, mit den Erwartungen des Hörers spielt und einen elaborierten musikalischen Satz mit den Möglichkeiten der Virtuosität am Klavier verbindet. Besonders populär sind außerdem die Sonaten Pathetique (Op. 13, 1799) und Mondschein (Op. 27, 1801), die Originalität der Einleitungstakte letzterer bis zum Ende der ersten melodischen Phrase zeugen von Beethovens Erfindungsreichtum im Umgang mit der Klaviersonate. Dies überträgt sich schließlich auch auf die Motivik: Im ersten Satz der fünften Symphonie besonders präsent ist die Verwirklichung der thematischen Einheit, indem das berühmte Anfangsmotiv auf vielfältige Art in den musikalischen Satz eingeflochten ist.
Auch die häufigere Verwendung dynamischer Extreme fällt auf, von der Symphonik inspiriert, beispielsweise in der Waldstein- Sonate (Op. 53, 1803) und der Appassionata (Op. 57, 1804). Klangcharakter und Ausdrucksgestus erreichen hier neue Ebenen, ebenso wie der Tonumfang (in der Waldstein- Sonate weiter als zuvor; vom Kontra F bis zum a3). Keineswegs verlieren diese am „Heroischen“ orientierten Werke ihre strukturelle Vielschichtigkeit, im Gegenteil, diese wird kontinuierlich weiter ausgebaut. Gänzlich anders hierzu wirkt der erste Satz der Sonate Op. 81a (Les Adieux, 1809) mit seinem lyrischen, verklärten Charakter, den in dieser Zeit auch einige Sätze der kammermusikalischen Werke erfahren.
Im Alter litt Beethoven zunehmend an der Verschlimmerung seines Gehörleidens, wodurch er die Pianistentätigkeit beenden musste, die Verwendung von Hörrohren und Konversationsheften erleichterte jedoch die Kommunikation mit anderen Personen. Außergewöhnlich sind die Werke der letzten Schaffensperiode von Beethoven: die Missa Solemnis (Op. 123, 1823), die Neunte Symphonie (Op. 125, 1824), die späten Streichquartette fallen in diese Zeit, außerdem wandte sich Beethoven erneut der Gattung der Klaviersonaten zu (Op. 106, 109, 110). Bemerkenswert ist der virtuose Umgang mit der Variationstechnik in der zweisätzigen Sonate Op. 111, deren inniger, ruhevoller Schlusssatz die Hauptgedanken des Werks zu einer fest verbundenen Einheit erfüllt. Im Doktor Faustus von Thomas Mann heißt es zu diesem Werk: „Es sei geschehen, daß die Sonate im zweiten Satz, diesem enormen, sich zu Ende geführt habe, zu Ende auf Nimmerwiederkehr“. Nicht nur das Ende des Stücks ist hiermit gemeint, sondern die Gattung der Sonate als Kunstform, die „ihr Schicksal erfüllt, ihr Ziel erreicht“ habe. Mit der Aufführung aller Klaviersonaten begeben wir uns auf eine Reise durch die verschiedenen Schaffensphasen, Ideen und inneren Impulse Beethovens, durch welche diese Werke so interessant und abwechslungsreich in Erscheinung treten.
Autor: Ruven Wegner
Quellenangaben:
Kerman, Joseph und Tyson, Alan, „Beethoven“. J.B. Metzler, Stuttgart 1992.
S. 88-121, S. 141-147.
Hinrichsen, Hans-Joachim, „Beethoven – die Klaviersonaten“. Bärenreiter, Kassel 2013.
S. 13, S. 46-48, S. 238-240, S. 258-261, S. 390-402, S. 406-410.